Kidical Mass und das System Velo Schweiz

Nach dem enttäuschenden, weil todlangweilig verlaufenen Giro d’Italia – mit einem Sieger, der seiner Konkurrenz wohl nicht einmal die beiden Plätze neben ihm auf dem Podium gönnte – brauchte mein Veloherz etwas Trost. Es fand ihn am Sonntagnachmittag, also just während in Rom der Giro-Tross zu Recht bejubelt wurde, ebenfalls in einem Tross. Der aber selber jubelte.

Und das kam so: Seit mehreren Jahrzehnten gibt es auf der ganzen Welt die Critical Mass-Veranstaltungen. Das sind in der Regel unbewilligte Veloumzüge am letzten Freitagabend des Kalendermonats durch Innenstädte, welche seit noch mehr Jahrzehnten dem Autoverkehr gewidmet, um nicht zu sagen in den Hintern gestopft, in den Rachen geworfen worden sind. Auf einer Critical Mass-Fahrt kann man das Velofahren geniessen, ohne um sein Leben zu bangen. Nebenbei dient die CM auch als Erinnerung, wie die Welt auch aussehen könnte. In Zürich diente sie kürzlich auch als Katalysator für die Weltsicht der bürgerlichen Lokalpolitiker, welche die CM kurzerhand verboten und Teilnehmende gebüsst hat, als sie ihr Recht auf Versammlung und auf Benutzung öffentlicher Strassen und Wege wahrnehmen wollten. Ganz nach dem freisinnig-bürgerlichen Motto FDP („föck de Plänet“).

Seit wenigen Jahrzehnten existiert aber auch eine CM für Kinder: die Kiddical Mass. Diese Umzüge sind meist bewilligt und werden von der Polizei begleitet und unterstützt. Wer selber einmal hingehen will, findet unter dem entsprechenden Hashtag auf Instagram oder natürlich im Netz allgemein leicht Veranstaltungsorte in seiner weiteren Umgebung. Ich war am vergangenen Sonntag gerade in Chur und hatte mein Velo dabei. Also fuhr ich an der ersten KM in der Geschichte der angeblich ältesten Schweizer Stadt mit, wenn auch ohne Kinder, die ich gerade nicht dabei hatte. Ich blieb aber unentdeckt. Die Veranstalterin Pro Velo Graubünden vermeldete 222 Teilnehmende – Kinder und Erwachsene – die mit vollem körperlichen Einsatz ganz gemütlich einen Parcours von knapp vier Kilometern unter ihre Räder, Rollen und Füsse nahmen. Gestärkt mit Kuchen und geschmückt mit Ballons, bunten Bändern, Klebetattoos und an den Speichen knatternden Jasskarten. Es war herzerwärmend und zutiefst ermutigend zu sehen, mit welchem Ernst und Eifer die Kinder bei der Sache waren, als sie ihre Laufräder mitten durch die zahlreichen (Chur gilt als Kreisellaboratorium) und grossen Kreisel steuerten, auf ihren noch etwas grossen Mountainbikes Lücken zum Haupthast zufuhren, diszipliniert auf ihrer Strassenseite blieben und dabei das Klingeln oder Hupen komplett vergassen. Ihre erwachsenen Begleiter sprangen hier geistesgegenwärtig in die Bresche, um die wenigen Menschen am Strassenrand zusätzlich auf sich aufmerksam zu machen (nicht dass das nötig gewesen wäre, denn wie oft kriegt man in einer mittelgrossen bis kleinen Schweizer Stadt einen Pulk von mehr als vier Velofahrenden zu sehen?). Nicht wenige Teilnehmende haben den Anlass in einem Anhänger oder Kindersitz komplett verpennt. Das ist ein besonders radikaler Ansatz, um gegen die angespannte und feindselige Stimmung auf unseren Strassen zu demonstrieren. Weiter so, wollte ich den Demoschläfern zurufen, tat es aber nicht, um sie nicht aufzuwecken.

Stelldichein vor der gemeinsamen Stadtrundfahrt (Bild: Pro Velo Graubünden)

Apropos wecken: Auch eine KM ist nicht allein ein heiterer Familienausflug. Die Teilnahme von 222 Personen sollte durchaus auch als Weckruf an unsere Politik und an die Planungsbehörden verstanden werden. Diese sollten schnellstens an die Startlinie aufrücken, laut klingeln und den Kindern von heutigen KMs schnellstens eine Veloinfrastruktur bereitstellen, die attraktiv, durchgängig, komfortabel, direkt und sicher ist – wie es das nationale Veloweggesetz fordert. Damit die Kinder vom Sonntagnachmittag nicht alle in zwanzig Jahren zu Autopendlern degeneriert sein werden wie ihre Grosseltern es waren. Damit sie unsere Städte wieder lebenswert, grosszügig und schön machen. Das wird uns Rentnern von dannzumal ebenso zugutekommen wie den noch nicht Geborenen. Klar?

Im Familien-Wolldecken-Happening, in welches die KM von Chur am Start- und Zielort auf einer riesigen Wiese ausartete, schluckte ich dann noch einen kleinen persönlichen Wermutstropfen, als eine Mutter zur anderen sagte, wie unfassbar das sei: Noch immer seien Velofahrende ohne Helm unterwegs!

Zufälligerweise hatte ich wenige Tage vor der Churer KM Gelegenheit gehabt, zweien Adressaten dieses Weckrufs zuzuhören. Das erste nationale Veloforum in Zürich hatte sich zum Ziel gesetzt, das System Velo in der Schweiz mit Fachreferaten zu inspirieren. Die Referate waren überwiegend interessant, teilweise tatsächlich inspirierend. Allein schon, dass eine Referentin auf der Bühne sagte „Velofahren macht glücklich“ war unerhört. Verkehrsminister Albert Rösti schaltete sich zu Beginn des Forums mit einer Videobotschaft zu und versuchte, den Zuhörenden Optimismus für die Zukunft des Verkehrs in der Schweiz einzuimpfen. Leider fand er unsere Blutgefässe nicht, was nicht so schlimm war, denn eine passende Spritze hatte er eh nicht dabei. In Erinnerung bleibt mir, wie er sich als Genussradler outete, was mich ehrlich gefreut, wenn auch nicht überzeugt hat. Seine Pläne zum massiven Ausbau des Autobahnnetzes lassen vermuten, dass er als Velofahrer noch nicht sehr viel Genuss erlebt hat.

Für einmal gehörten die Strassen den Kleinsten unter den Velofahrenden (Bild: Pro Velo Graubünden)

Röstis Ideen konnte dann der persönlich anwesende Chef des Bundesamtes für Strassen ASTRA Jürg Röthlisberger im Interview mit dem Moderator ausdeutschen. Und er übertraf meine Erwartungen, die sehr konkret gewesen waren. Ich hätte im Voraus die Hälfte meiner Velos, also zweieinhalb Stück, darauf verwettet, dass er uns irgendwann ermahnen würde, nicht die verschiedenen Verkehrsträger gegeneinander auszuspielen. Niemand wollte dagegenhalten, und das zu Recht, wie sich zeigte. Röthlisberger brachte den Satz denn auch bereits in seiner ersten Wortmeldung unter. Chapeau! Lautes Knacken von Halswirbeln setzte ein im Publikum, als gegen die Hälfte der Anwesenden heftig den Kopf schüttelte. Wenig ermutigend verlief auch der Rest des Gesprächs, in dem der Direktor konsequent von Autoli sprach, wenn er Motorfahrzeuge meinte. (Jöö! Schau mal die vielen schwarzen, weissen und grauen Autoli da unten auf der Autolibahn! Wie sie zufrieden dort stehen und grasen!) Im Übrigen sei das ASTRA niemals gegen etwas, sondern immer für etwas. (Also für das Auto und gegen das Velo? fragte mich mein Hirnstamm). Es betrachte den Veloverkehr daher nicht als religiöses oder politisches Vehikel, sondern als gleichwertige Mobilitätsform. Seither habe ich mehrere Nächte wach gelegen und über der Frage gebrütet: gleichwertig WOZU? Zu einem Hühnerauge (tut weh, geht aber irgendwie nie ganz weg)? Zur Steuererklärung (ein Finger im Hintern, aber muss wohl sein, da Anordnung von ganz oben)? Zur wöchentlichen Teamsitzung (nimmt allen Zeit weg, und keine hat jemals was gebracht)? Doch nicht etwa gleichwertig zum Autoverkehr (laut, teuer, unverhältnismässig, schmutzig, gefährlich)? ODER?

Immerhin, der entrüsteten Mutter aus Chur gab der ASTRA-Chef bereits im Voraus mit auf den Weg, dass es ja bei der Verbesserung der Kleidung für Velofahrende ermutigende Fortschritte gebe (und zur Kleidung für Velofahrende gehört offenbar als erstes ein Velohelm, nicht?). Ganze vier Mal (4 ×) hat er es geschafft, das Wort Kleidung in seinem rund fünfzehnminütigen Interview zur Inspiration des Systems Velo in der Schweiz unterzubringen. Sollte es je einen Keim der Hoffnung gegeben haben, der Bund nehme das Velo ernst, wurde er an diesem regnerischen Donnerstagvormittag im Zürcher Kongresshaus innerhalb von 15 Minuten mehrfach überfahren.

Obwohl, und das muss hier auch festgehalten werden, Frau Helmsorge auch Chur: Jürg Röthlisberger, Direktor des Bundesamtes für Strassen ASTRA, hat auf Nachfrage des Moderators festgehalten, dass er ein allgemeines Helmobligatorium für den Veloverkehr als nicht sinnvoll erachtet. Jubelschreiend rannte ich aus dem Saal und wurde vor dem Kongresshaus glücklicherweise nicht überfahren. Ich hatte nämlich keinen Fussgängerhelm auf.

 

Dies ist ein Gastbeitrag von Paul Tamburin von velopflock.ch.