Augen zu und durch – Gastkommentar im Bündner Tagblatt vom 03. Oktober 2022

Mitte September. Herr Meier fährt mit seinem Auto zur Arbeit. Er hört Radio: «Das Bundesamt für Strassen hat gestern die Halbjahreszahlen der Strassenverkehrsunfälle publiziert. 1746 Personen wurden schwer verletzt und 116 getötet. Damit ist die Zahl der Getöteten und Schwerverletzten im Strassenverkehr gegenüber der Vorjahresperiode angestiegen.» Meier ist schockiert und überlegt kurz, ob er weniger Auto fahren sollte. Doch dann kommen beruhigende Nachrichten aus dem Radio: «776 der Schwerverletzten waren mit dem Velo oder zu Fuss unterwegs, nur 346 mit dem Auto. Und das, obwohl mit dem Auto viel mehr Kilometer zurückgelegt werden als zu Fuss und mit dem Velo.» Herr Meier ist beruhigt: Offensichtlich ist Autofahren viel sicherer als Zufussgehen und Velofahren. Was für ein Glück. Zufrieden lehnt er sich zurück und drückt aufs Gas.

Nur: Ist die Erklärung wirklich so einfach? Ist die eigentliche Gefahr im Strassenverkehr tatsächlich, dass wir zu Fuss gehen und Velo fahren? Da lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Verkehrsunfälle gab es natürlich schon zu Zeiten der Pferdefuhrwerke und Ochsenkarren. Damals spielte sich der Grossteil des Verkehrs auf unseren Strassen noch zu Fuss und später auch mit dem Velo ab. Verkehrsunfälle waren seltener und meist weniger fatal. Erst mit dem Aufkommen des Automobils, das grösser, schneller und lauter war als alle bisherigen Verkehrsteilnehmer, verschob sich dieses Gleichgewicht. Die Gefahr für die anderen Verkehrsteilnehmenden nahm zu, schwere und auch tödliche Unfälle waren die Folge. Entsprechend gross war der Widerstand gegen die neue Erfindung: In Graubünden wurde das Automobil 1925 erst nach zehn Volksabstimmungen von der Bevölkerung zugelassen. Im Aargau schrieb das Obergericht noch 1922 in einem Urteil, «dass ein Fussgänger auf der Strasse völlig frei ist, wo er gehen will, dass ferner auch schwerhörige Personen, ja sogar Taubstumme und Leute mit schweren Holzschuhen die Strasse betreten dürfen. Denn die Fussgänger gefährden andere nicht; das Gefahrenmoment aber schafft das Automobil».

Diese einfache Feststellung trifft auch heute, fast 100 Jahre nach der Zulassung des Automobils in Graubünden, zu. Wie kommt es also, dass wir seither scheinbar unbeirrt in Kauf nehmen, dass jährlich Tausende Menschen von Automobilen verletzt und Hunderte getötet werden? Dass wir dies sogar fördern, indem wir immer mehr und breitere Strassen bauen, die noch mehr Verkehr anziehen und auf denen die Automobile noch schneller fahren können? Die Erklärung ist ernüchternd: Wir sind abhängig geworden, wir können uns das Leben ohne Automobil nicht mehr vorstellen. Natürlich gibt es Bereiche in unserer modernen Gesellschaft, die ohne Automobil nicht funktionieren. Aber ganz ehrlich: Die meisten Autofahrten spielen sich nicht in diesen Bereichen ab. Wir nehmen das Auto schlicht und einfach aus Bequemlichkeit, meist auch für sehr kurze Distanzen.

Friedliches Miteinander auf dem Churer Postplatz statt Abgasen, Lärm und Stau: So war es einmal. (Foto: Wege und Geschichte, Via Storia)

Und damit zurück zur Unfallstatistik: Die meisten Unfälle passieren nicht wegen schwerhörigen Fussgängern oder Velofahrerinnen, sondern aufgrund der Tatsache, dass diese ihren Strassenraum mit immer zahlreicheren und grösseren Automobilen teilen müssen. Wenn also Herr Meier künftig zu Fuss, mit dem Velo oder mit dem ÖV zur Arbeit fährt, ist das nicht nur gesund für ihn, sondern auch ein Sicherheitsgewinn für alle anderen auf der Strasse.